Die Trauer um Scar: Wenn Bösewichte zu Helden werden


„Ich bin traurig“, sagt der Prinz nach dem Abspann von „König der Löwen“. „Wegen Mufasa?“, fragen wir mitfühlend. „Nein, wegen Scar!“
Ein Einblick in die Gedankenwelt eines Bösewichte-Liebhabers.


Ein bekanntes Muster

Nach einem kurzen Schreck mussten wir schmunzeln. Was für eine dumme Frage! Natürlich trauerte unser Sohn nicht um den Helden der Geschichte, sondern um dessen hinterhältigen Antagonisten – wie (fast) immer.
Bereits in den frühesten Rollenspielen offenbarte der Prinz seine Sympathie für die dunkle Seite. Bei Verfolgungsjagden war er stets der Kriminelle, bei Rennen der Schlingel mit unfairen Tricks und auf hoher See der Pirat. Somit war es nur konsequent, auch in Geschichten mit den Bösewichten mitzufühlen.


Können wir Rudy basteln?

Nach einem Besuch bei der Tante berichtete der Prinz freudestrahlend, dass er „Ice Age“ geschaut hatte. Noch ganz begeistert von den neuen Eindrücken wollte er eine Figur aus dem Film nachbasteln. Naja, basteln lassen. Da ich seine Anweisungen nicht exakt genug ausführte, brauchte ich ein Bild als Vorlage und googelte nach „Rudy“. Ob es sich hierbei wohl um ein Tier aus der Herde oder um das schlitzohrige Wiesel handelte?
Nein – auf dem Display starrten mich grässliche, feurige Augen und ein sabberndes Maul mit spitzen Zähnen an. Rudy, der Endgegner, ein monströser Dinosaurier, sieht in etwa so aus:
 
Basteln mit Kindern
Links: Rudy aus "Ice Age"

Dusty vs. Ripslinger

Auch in Hörspielen macht der Prinz die Bösewichte zielsicher ausfindig, beispielsweise bei „Planes“. Die Geschichte handelt vom Traum des Sprühflugzeugs Dusty, über sich selbst sowie sein Einsatzgebiet – die Agrarwirtschaft – hinauszuwachsen und ein Rennflugzeug zu werden. Auf seinem steinigen Weg zum Sieger eines internationalen Flugwettbewerbs wird er mehrmals von seinem Widersacher Ripslinger sabotiert: ein arroganter, selbstverliebter Gewinner, der mit unlauteren Mitteln kämpft.

Nachdem der Prinz jedes Wort des Hörspiels auswendig kannte, wollte er ausgewählte Szenen nachspielen. „Ich bin Ripslinger. Du, Mami, kannst Dusty sein, wenn Du willst.“ Er ist der Bösewicht – klar, oder?!


Der Erfinder Romeo

Am häufigsten schlüpft der Prinz in die Rolle des Gegenspielers der „Pyjamahelden“, Romeo. Hierbei schnappt er sich diverse Fernbedienungen und programmiert sie für seine jeweiligen Vorhaben. Zum Beispiel klaut er damit Stimmen und Fähigkeiten oder verwandelt seine Mütter in Roboter, die sein Spielzeug aufräumen.
Er sieht bis heute nicht ein, warum die drei Kinder, die sich nachts in Superhelden verwandeln und das von Romeo verursachte Chaos in Ordnung bringen, die Positiven sein sollen. Sie machen schließlich nichts, außer Schadensbegrenzung. Romeo hingegen hat Pläne und ist kreativ, er hat ein Labor und erfindet die erstaunlichsten Sachen...

Dieser Gedankengang führt uns näher zur Antwort auf die Frage, weshalb der Prinz den Bösewichten Vorrang gibt.


Die Vorzüge des Bösen

Wenn man sich für einen Augenblick von der unterschwelligen Angst „Oh Gott, wird mein Kind etwa Soziopath?“ befreit und die ganze Sache etwas nüchterner betrachtet, lassen sich durchaus Gründe finden, die für die Widersacher sprechen:

Bösewichte sind raffinierter. Die Pyjamahelden beispielsweise ziehen sich Kostüme an und verfügen dadurch über einige wenige, fest definierte Fähigkeiten. Der Gegenspieler Romeo kommt ohne Anzug aus und kann dank seiner Erfindungen unzählige Fähigkeiten entwickeln.

Bösewichte sind vielschichtiger. Helden sind für gewöhnlich gutherzig und zielstrebig. Antagonisten sind hingegen flexibler und müssen sich an keine Tugenden halten. Es steht ihnen zu, launisch und inkonsequent zu sein oder Pläne zu schmieden und zu verwerfen.

Bösewichte haben einen größeren Handlungsspielraum. Von den Fesseln der Moral befreit, verfügen sie über ein breites Spektrum an Möglichkeiten.

Bösewichte sind Macher. Während Helden häufig „lediglich“ auf Untaten reagieren, nimmt die Gegenseite eine aktive Rolle ein. Die Unruhestifter sind es, die etwas erschaffen oder in Gang setzen.

Insgesamt betrachtet suggerieren Bösewichte Mut und Stärke („einer gegen alle“) und erleben scheinbar mehr Abenteuer als Helden. Die dunkle Seite ist aufregender.

So hübsch dieser Blickwinkel auch klingt:


Alles nur elterliche Schönrederei?

Um im Falle des Prinzen sicherzugehen, haben wir nachgefragt. Das Resultat: alles im Rahmen. Das Liebäugeln mit Schurken und Ganoven ist keine Seltenheit bei Vierjährigen, vor allem, wenn sie klare Vorstellungen vom Leben haben, die von den bösen Erwachsenen torpediert werden. Hiermit sind keine Verbote, Maßregelungen und Einschränkungen des Kindseins gemeint, sondern ganz simple Dinge:

„Ihr stänkert die ganze Zeit mit mir!“, trotzt der Prinz nach einem Tag voller Wutanfälle.
„Womit ärgern wir Dich denn?“, wollen die ratlosen Eltern wissen.
„Na, ihr sagt zum Beispiel immer, dass ich mich anziehen und Zähne putzen muss, oder essen soll. Das gefällt mir überhaupt gar nicht!“

Der arme Junge fühlt sich vom Alltag derart schikaniert, dass er sich wenigstens im Spiel mächtig fühlen möchte.

Eltern können also durchatmen und Bösewichte ganz unmoralisch auf zweierlei Art verstehen: Sie sind ein guter Weg, um mit Frustrationen umzugehen, und mit ihren schillernden Persönlichkeiten sind die Gegenspieler schlichtweg faszinierender als so mancher Held.


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Kommentare

  1. Wow! Ich find es super das dein Kleiner sich immer den bösen Schurken raussucht und hinterfragt wieso, warum, weshalb ? Echt toll! Vielleicht wird ja aus ihm mal ein Filmemacher, bei schon soviel Kreativität!

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  2. Mein Sohn hat die Tage beim Wandern Kaltern auch erstmal seinen Lieblingsbösewicht imitiert, ich glaube viel Jungs sind so.Liebe Grüße Nina

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