Von Callboy-Hüten, Karlotten und Oktopussys – wenn ein Kind die Sprache entdeckt

„Lass mal Kino gehen!“ Sätze wie diese, vor allem aus dem Mund von Erwachsenen, lassen leise Zweifel aufkommen: Ist das Erlernen der Muttersprache tatsächlich so einfach und unproblematisch wie immer behauptet wird? Wie sich der 3,5-jährige Prinz von Moabit bisher in der Welt der Wörter geschlagen hat, zeigt folgender Rückblick.


Es sprach der Materialist

Mit knapp einem Jahr hatte das Warten ein Ende: Der Prinz sprach sein erstes Wort. Während wir auf den Klassiker „Mama“ oder „Mami“ spekuliert hatten, überraschte uns die Wirklichkeit. Es war keine Bezeichnung für eine vertraute Person, sondern „Gold“.
„Gold, Gold, Gold, Gold“ wiederholte das kleine Geschöpf immer wieder fröhlich vor sich hin. Da wir weder mit Goldbarren Spielzeugtürme bauten noch von goldenen Tellern aßen, wunderten wir uns sehr. Vielleicht wollte er uns damit einfach nur sagen, dass wir seine Schätze sind? Okay, weg mit der rosaroten Brille... „Kniet nieder und vergöttert mich, hier ist euer goldener Gebieter“ traf es wohl eher.
Ein paar Tage später dachte der „Goldjunge“ schließlich doch noch an uns und sagte „Mama“. Gleich in zwei verschiedenen Tonarten, so dass wir von Anfang an wussten, wer gemeint war.


Die Macht der Worte

Es dauerte nicht lange bis der Prinz herausfand, dass mittels Worten Befehle erteilt werden können. Folgerichtig erlernte er als drittes Wort „Gib!“ und freute sich, wie brav seine Umwelt spurte.
Da wir nach ein paar Tagen zunehmend unmotivierter wurden und nicht mehr unverzüglich aufsprangen, wenn der Prinz „Gib!“ ertönen ließ, wechselte er die Strategie und nahm als viertes Wort „bitte“ in sein Repertoire auf.
Die Kombination „Gib! – große Augen machen – lächeln – Bitte!“ war einfach unschlagbar.


Überall Zhazhas

In den folgenden Wochen machte der Wortschatz des Prinzen einen gewaltigen Sprung, wobei er sich allerdings mit Abkürzungen und einzelnen Silben begnügte. So winkte er beispielweise dem „Bu“ (Bus) zu, spielte „Ga“ (Gitarre) oder bekam Besuch von „Tate“ (Tante) und „Apa“ (Opa).
Zudem erfand er eigene Wörter wie „Nunja“ für Nuckel und „Zhazha“ für Hund. Seine Kreationen verteidigte er energisch. Wollte ihm zum Beispiel jemand erklären, dass Zhazhas eigentlich „Hunde“ heißen, sagte er mit festem Blick: „Nein“ – dieses Wort beherrschte er mittlerweile auch – „Zhazha!“

Mit einem Jahr und fünf Monaten wagte sich der Prinz an dreisilbige Wörter heran. Meistens mit Erfolg, in einigen Fällen änderte er den letzten Teil jedoch gern in „dja“. Heraus kamen dann Tiere wie „Papadja“ (Papagei) und „Kokodja“ (K(r)okodil).


Häng noch ein „L“ dran!

So lautete das Motto des Prinzen mit etwa zwei Jahren, denn er hatte eine Vorliebe für den Buchstaben „L“ entwickelt. So aß er zum Beispiel „Karlotten“, wollte vom „Kaffel“ probieren oder ins „Cafél“ gehen, um „Wenkel“ und „Heikel“ zu treffen.


Die große Explosion

Nachdem der Prinz erst einzelne Wörter wie „Flugzeug oben Himmel“ aneinandergereiht und dann einfache Sätze gebildet hatte, schien sein Hirn über Nacht auf Mallorca explodiert zu sein. Ob es die Meeresluft war, der Druck in der Flugzeugkabine oder das Sprachwirrwarr der anderen Touristen – irgendetwas hatte eine Lawine losgetreten, so dass der Zweieinhalbjährige plötzlich nicht nur korrekte Hauptsätze sprach, sondern auch Nebensätze verwendete.
Am liebsten exprimierte er dabei mit „wenn-dann“ und „deshalb“ Konstruktionen, um sich und uns die Welt zu erklären. So kommentierte er alles und jeden mit scharfsinnigen Analysen wie: „Wenn das Tor zu ist, dann kommt kein Auto. Wenn das Tor auf ist, kommt ein Auto. Das Boot hat ein Segel, deshalb ist es ein Segelboot. Wenn das Boot kein Segel hat, dann ist es kein Segelboot.“


Stets auf der Suche

Der Prinz liebt es bis heute, neue Wörter aufzuschnappen und ihre Bedeutungen zu erfahren. Neben Alltäglichem scheint er bei abstrakten Dingen besonders hellhörig zu sein und überrascht mit Fragen wie „Was ist ein System?“, „Was heißt unlogisch?“, „Was bedeutet Materie?“ – meistens mal eben zwischendurch auf dem Weg zur Kita oder an der Supermarktkasse.
Derzeit versucht er, den Unterschied zwischen Kunst und „Kram“ zu erfassen. „Mami, ist das da ein Klettergerüst oder Kunst?“ „Das ist Kunst, eine Skulptur.“ „Aber wieso ist das Kunst und kein Klettergerüst? Man kann doch darauf klettern. Vielleicht ist das ja ein Kletterkunstgerüst?“

Der Prinz wäre nicht der Prinz, wenn er sich darauf beschränken würde, auf neuen Input zu warten – um seinen Wortschatz zu erweitern, ist er ständig auf der Suche nach Synonymen und Umschreibungen. Als Resultat geht der Herr jetzt nicht „irgendwann mal wieder ins Bällebad“, sondern „eines Tages“. Er findet Dinge nicht mehr einfach nur gut, sondern meint: „Ja, das könnte mir gefallen.“ Und natürlich ist es auch nicht windig draußen, sondern „ein Sturm zieht auf“.


Du Oktopussy!

Die Suche nach Verniedlichungsformen zählt ebenfalls zu den Hobbys des Prinzen. So lässt er manchmal einen „Luftballon-gi“ fliegen, nimmt sein „Orca-chen“ mit in die Wanne oder spielt mit einem „Oktopus-sy“. „Oma-li“ hat er gern und „Mami-ch“ meistens auch.


Ist das Latein?

Neben Spielereien mit der Muttersprache bekundet der Prinz Interesse an Fremdsprachen. „Was hat die Frau / der Mann gerade gesagt?“, fragt er stets, wenn sich jemand in der Nähe auf einer anderen Sprache als Deutsch unterhält – keine Seltenheit in Berlin. „Und in welchem Land spricht man diese Sprache?“, lautet die typische Anschlussfrage. Glücklicherweise gelingt es mir in den meisten Fällen, eine Antwort zu geben. Mitunter wird es jedoch knifflig. So brachte mich beispielsweise Carl Orffs "Carmina Burana" ins Schwitzen:
„Latein? Aha. Und wieso spricht heute keiner mehr diese Sprache? Kann man die nur noch singen? Und warum gibt es dieses Land nicht mehr?“ Falls jemand eine kompakte Antwort für einen Dreieinhalbjährigen parat hat, immer her damit!


Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt

Der Prinz hat mittlerweile verstanden, dass Worte und Bezeichnungen die Macht haben, Situationen zu seinen Gunsten zu verändern. Er setzt diese Erkenntnis meisterhaft um:

Mami: „Hör bitte auf mit dem Essen zu spielen!“
Der Prinz: „Ich spiele doch gar nicht. Ich mache Esskunst.“

Diese Taktik setzt er auch bei „Ansagen“ und Verboten ein. Statt sich daran zu halten, dreht er den Spieß um und besänftigt mit Worten wie „Hey, warte mal, ich will Dir etwas anbieten“, „Ich mache Dir einen Vorschlag“ oder „Ich gebe Dir noch eine Chance“.
Auf diese Weise setzt er nicht nur Pipi Langstrumpfs Lebensmotto „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“ um, sondern schafft es zudem regelmäßig, Erwachsene aus dem Konzept zu bringen.


Siehst Du den Callboy-Hut?

Innerlich schmunzelnd steht man dann vor dem Knirps und fragt sich, wo er diese oder jene Redewendung schon wieder aufgeschnappt hat. Es ist noch gar nicht lange her, als er Ga spielte und den Zhazhas nacheilte...
So schön die Lernerfolge sind, die lustigen Fehler, die hin und wieder passieren, sind es ebenfalls. Habt ihr im Buch „Pino Pfote, Päckchen Bote“ schon den „Callboy-Hut“ gefunden und wisst, was es „bedeutelt, traubig“ zu sein?



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